120 Jahre Schulze-Gunst Augenoptik
sg-120-jahre-schulze-gunst – Veröffentlicht im Kiez.Magazin: Lichterfelde/Lankwitz/Steglitz 2014
Eine Lichterfelder Firmengeschichte
Lichterfelde vor 120 Jahren: Am 1. Oktober 1894 eröffnet Wilhelm Schulze eine Werkstätte für Uhren und optische Artikel und deren Fertigung. Seine Niederlassung ist von Anbeginn eng mit der Entstehung von „Groß-Lichterfelde“ verbunden, das sich damals mühsam von der dörflichen Struktur und Gemeinschaft, die es bis dato mit Giesensdorf und Osdorf verband, löste, ehe es sich am 2. Mai 1878 eine eigene Verfassung gab. Was für eine Zeit – als Wilhelm Schulze den Schritt in die Selbstständigkeit wagte! Gustav Lilienthal, Bruder von Otto Lilienthal, errichtete die ersten sozialverträglichen Häuser für Großfamilien („Lilienthalburgen“). Theodor Fontane reichte 1894 die Vorveröffentlichung von „Effi Briest“ ein, ob er wusste, dass seine Protagonistin in der Lichterfelder Geibelstraße wohnte? Im selben Jahr gab Thomas Mann seine erste Novelle „Gefallen“ heraus. Die „Buddenbrooks“ standen im Konzept. Bereits 1860 hatte Johann von Carstenn begonnen, seine Idee von einer Gartenstadt vor den Toren der Metropole zu verwirklichen, ein Vorhaben, das, zwar behindert durch Krieg und Wirtschaftskrise, doch allmählich Gestalt annahm, beflügelt durch eine wachsende Infrastruktur mit Straßen, Wannsee- bzw. Anhalter-Bahn, Hauptkadettenanstalt, mit dem Bau repräsentativer Villen, Dienstgebäude und Kirchen.
Das Geschäft für Uhren, Optik, Gold- und Silberwaren, das Wilhelm Schulze, seines Zeichens Uhrmachermeister, in der Ringstraße 71 in Lichterfelde am 1. Oktober 1894 eröffnete
Wilhelm Schulze, dessen Familie anhaltinische Wurzeln hatte, war fest vom Gelingen der „Gartenstadt Groß-Lichterfelde“ überzeugt, und so ließ er sich am 1. Oktober 1894 mit einer Werkstatt für Uhren und optische Artikel, wozu Kneifer, Lorgnetten und Brillen zählten, in der Kyllmannstraße nieder. Er war ein vorsichtiger Mann. Seine vier Kinder Wilhelm, Georg, Alfred und Charlotte hatten sich seiner geschäftlichen Lebensplanung unterzuordnen. Da wurde nicht lange gefragt, der Patriarch bestimmte…
Als 1902 an der Ecke Ringstraße/ Sternstraße (Kadettenweg) ein repräsentatives Mehrfamilienhaus fertig gestellt wurde, zog er mit Gewerbe und Familie in das Souterrain der Ringstraße 71. Eine riesige Uhr von 1,20 m Durchmesser dominierte das Schaufenster. Sie diente über Jahrzehnte als „Normalzeit“ der Lichterfelder, beide Weltkriege überstehend, und selbst die Russen brachte sie nach 1945 dazu, die an ihren Armen bis zu den Ellenbogen bestückten „Uri, Uri“ zu kontrollieren.
Zeitungsannonce von 1912 zur Geschäftseröffnung in der Karlstraße 4 am Bahnhof Lichterfelde-West.
Der neue Standort lag an der Zufahrt zur Kadettenanstalt und am Drehkreuz der „Elektrischen“. Das Geschäft entwickelte sich lebhaft. 1912 wurde in der Karlstraße 4 (heute Baseler Straße 12) eine Filiale eröffnet. Vom wirtschaftlichen Erfolg angespornt, hatte mein Großvater Weitsicht genug zu erkennen, dass der Verkauf von Grundstücken sich nicht nur auf Lichterfelde-Ost orientieren würde, sondern dorthin, wo der direkte, der schnellste Weg nach Berlin führte, wo die Wannseebahn (auch „Bankiersbahn“) nur eine Viertelstunde von Lichterfelde-West zur Friedrichstraße brauchte. Auch „höheren Orts“ war man inzwischen davon überzeugt, dass die urbane Expansion in diese Richtung vorteilhaft sei. Der Kaiser ließ zu diesem Zweck eine silberne Glocke schaffen, die denjenigen in Anerkennung ihrer unternehmerischen Weitsicht überreicht wurde, die in Lichterfelde-West eine Filiale ihres bestehenden Unternehmens gründeten.
Mit kaiserlichen Glöckchen aus Silber wurden in den Gründerjahren Unternehmen geehrt, die neben ihrem Hauptgeschäft auch eine Niederlassung in Lichterfelde-West betrieben
Die Nachkriegsjahre und die „Goldenen Zwanziger“ waren für die Familie alles andere als glänzend, schon gar nicht die Dreißiger Jahre. 1936 starb Wilhelm Schulze, der Patriarch des Familienverbundes, 74-jährig. Seine Kinder einigten sich darauf, wirtschaftlich getrennte Wege zu beschreiten. Mein Vater Alfred, der Uhrmacher- und Augenoptikermeister, übernahm „das Geschäft am Bahnhof“ in der Baseler Straße 12, mein Onkel Georg das in der Ringstraße 71, Onkel Wilhelm und Tante Charlotte wurden ausbezahlt. So aufgestellt ging es unsicheren Zeiten entgegen.
Alfred Schulze unterhielt damals sehr gute Verbindungen zum damaligen „Kaiser-Wilhelm-Institut“ (heute: Max-Planck-Institut). Dort arbeiteten Persönlichkeiten, die das wissenschaftliche und intellektuelle Hirn der Welt repräsentierten: Albert Einstein, Liese Meitner, Otto Hahn… Aus dieser Zeit stammt das von Max von Laue signierte Physik-Schulbuch, welches vorsorglich für den Stammhalter von Alfred Schulze, den Chronisten, gedacht war…
In der NS-Zeit war es im Geschäfts- und Alltagsleben der Familie üblich, statt des „Hitlergrußes“ einfach „Grüß Gott“ zu sagen. Unterlaufen wurden auch NS-Verordnungen, wonach an den Türen der Geschäfte Schilder „Für Juden verboten“ anzubringen seien. Noch lange stand ein Seiteneingang den offiziell ausgegrenzten jüdischen Mitbürgern offen, bis „staatstreue Nachbarn“ daran Anstoß nahmen und Anzeige erstatteten. Die SS unterband diese Praxis, aber Alfred Schulze blieb standhaft und musste deshalb sein Geschäft bis Kriegsende schließen. Viele Jahre später versicherten uns Leidensgefährten wie die Enkelin von Gustav Lilienthal, Anna Sabine Halle, deren Familie praktizierende Quäker waren und zu den von den Nazis Verfolgten gehörte, dass „die Schulzes zu den moralisch Zuverlässigen“ gehört hätten. Dass gegen ihn und seine Familie nicht noch schlimmere Sanktionen verhängt wurden, war wohl dem Umstand geschuldet, dass einflussreiche Fürsprecher seine hohe fachliche Kompetenz schätzten und für bestimmtes Kriegsgerät zu nutzen wussten. So blieb es beim „Hausarrest“ bis Mai 1945.
Nach dem Kriegsende zeichnete sich mit der Währungsreform ein Silberstreifen am Horizont ab. Acht Jahre danach wurde das Geschäft auf zeitgemäßes Niveau gebracht. Unterdessen begann der Sohn von Alfred Schulze hier eine Lehre im Augenoptiker-Handwerk. Er sammelte nach der Lehre in der Schweiz Wissen für das Handwerk und fürs Leben. Kaum genug davon, schrieb er sich, nun wieder in Berlin, an der höheren Fachschule für Augenoptik ein, erreichte dort den Abschluss als staatl. gepr. Augenoptiker, leistete anschließend die Prüfungen an der Handwerkskammer Berlin für die Meisterprüfung. Und er ehelichte Maria Gunst aus Schwäbisch Gmünd, die von da an, als erste der gegründeten Familie, „Schulze-Gunst“ hieß. Fünf Jahre später, im März 1973, konnten auch Dieter Alfred Schulze und seine 1969 geborene Tochter Leonie sich ebenso nennen.
Noch schlugen zwei Herzen in und für die Firma: eines für Uhren und Schmuck, das andere für Augenoptik/Kontaktlinsen. Wenn zu Großvaters Zeiten beide Betätigungsfelder durch die feinmechanische Geschicklichkeit ihre Berechtigung hatten, so waren Jahrzehnte später durchaus andere Prioritäten möglich und nötig. Maria und Dieter Schulze-Gunst wählten den behutsamen Weg. Sie wollten die Tradition nicht spontan über Bord werfen, sie meinten, beide Beschäftigungsfelder müssten erst den höchst möglichen Standard bekommen. 1975 bot sich die Gelegenheit, dass die Firma ihren Standort noch einmal verändern konnte. Sie hatte am alten Ort, an der Baseler Straße, nicht mehr genügend Raum. Frühe Planungen, die Branchen zu trennen, wurden nun umgesetzt. Maria und Dieter Schulze-Gunst entschieden sich für die Augenoptik. Dafür konnten in der Curtiusstraße 6, im Emisch-Haus zwei Etagen angemietet werden. Die in den 1950er Jahren „modernisierten“ Rundbögen wurden von ihnen denkmalgerecht wieder hergestellt. Ein Aufzug verband nun beide Etagen. Im oberen Stockwerk wurden die Werkstatt und der Raum für die Augenglasbestimmung und für Kontaktlinsen-Anpassung untergebracht.
Am 1. Oktober 1975 konnte das Geschäft in seiner heutigen Gestalt wirtschaftlich neu in Betrieb genommen werden. Mit der pittoresken Fachwerkfassade und den von Maria und Dieter Schulze-Gunst wieder hergestellten hohen Schaufensterbögen gehört es noch heute zu den beliebtesten Fotomotiven der Stadt. Hinter der schmucken Fassade war die dritte Generation nach besten Kräften bemüht. Landläufig wird unter Augenoptik vielleicht „Brillen verkaufen“ verstanden. Wer jedoch eine über das normale Maß belastete Sehschärfe hat, wird die Leistung eines auf dem neuesten Stand von Wissen und Technik stehenden Augenoptikers zu schätzen wissen – ohne dass bei der Wahl einer Fassung Zugeständnisse gemacht werden müssten. Das Gegenteil ist richtig, auch bei klassischen Modelle und Formen konnte zwischen Schildpatt und Büffelhorn gewählt werden. Die Firma Cartier hat ihre ersten Depots in Deutschland auch an Schulze-Gunst vergeben und damit ihre Wertschätzung zum Ausdruck gebracht. Vielleicht in der Art und Materialwahl war die erste Kollektion von JIL SANDER mit keiner anderen damaligen Kollektion vergleichbar, in Berlin wurde sie bei Schulze-Gunst am meisten verkauft.
Fast alle zukunftsweisenden Untersuchungstechniken, die zur bestmöglichen Korrektion des fehlsichtigen Auges führten, wurden durch Dieter Schulze-Gunst eingeführt. Der international anerkannte und als Wegbereiter der binokularen Augenprüfung Geehrte und die nach ihm benannte heute gültige Meßmethode, MKH, Hans-Joachim Haase, war viele Jahrzehnte Dozent an der Höheren Fachschule für Augenoptik und Lehrer von Dieter Schulze-Gunst. Die erste in Berlin amtlich zugelassene Sehteststelle für Führerscheinbewerber war die bei Schulze-Gunst. Die automatische Erfassung der Refraktionsanomalie am Auge wurde zuerst von Schulze-Gunst und einigen Kollegen genutzt. Gleichwohl wurde das erste eichfähige Tonometer (Gerät zur Messung des Augeninnendrucks) ohne Augenberührung durch uns als erste eingesetzt, gleich so wurde erstmalig ein bildgebendes, hochauflösendes Hornhautmikroskop eingesetzt, durch das die Beratungskompetenz konkurrenzlos gesichert wurde. Diese Beispiele sollen pars pro toto für viele Aktivitäten stehen, die in der Bestallung Dieter A. Schulze-Gunst zum vereidigten Sachverständigen für Kontaktlinsen durch die Handwerkskammer Berlin Ausdruck fanden.
Inzwischen ist der Staffelstab an die 4. Generation weitergereicht worden, an Tochter Leonie, Augenoptikerin mit Auslandserfahrung und Betriebswirtin d. H., und an Schwiegersohn Hauke Schulze-Gunst, der sich nicht scheute, seinen zweiten Dipl.-Ing. für den neuen Lebensweg abzulegen, jetzt im Fachbereich Augenoptik und Optometrie. Seit 2008 zeichnen beide für die Geschicke der Firma verantwortlich, unterstützt von langjährig tätigen Gesellen und Meistern.
Die Firmengeschichte ist ein Geschenk für die ganze Familie. Wie viele unzählige Begegnungen haben uns unsere Kunden geschenkt, ihre guten Ratschläge, ihre liebenswürdigen, ihre bereichernden Gespräche. All das beglückt.
Sollte ich aber nach einem Gespräch gefragt werden, welches mir heute noch gegenwärtig ist, dann dieses: Es mögen wohl 40 Jahre her sein, da hatte ich die Ehre, die Augen der 90jährigen Baronin von Wrangel, Baltin und Enkelin des letzten russischen Gouverneurs von Alaska (!), prüfen zu dürfen, und wie immer gab es Gespräche:„Mein lieber Herr Schulze-Gunst, ich will ihnen folgendes anvertrauen, das Alter ist schön, anspruchsvoll und mühsam.“
Dieter A. Schulze-GunstJahrbuch 1999 für Steglitz – Lichterfelde West
sg-jahrbuch-1999-steglitz – Veröffentlicht durch Verlag Presse Peterburs
Von einem silbernen Löffel, dem Dackel Max und einer Lichterfelder Familie im Wandel der Zeiten
Betritt der Besucher Lichterfelde West vom Bahnhof her, ist er mitten im geschäftlichen Leben. Trotz der nicht zu übersehenden Filialbetriebe, die, wie überall in Berlin, auch hier ihr uniformes Gesicht zeigen, bleibt dem interessiertenBesucher nicht unbemerkt, dass an einigen Läden dezenteHinweise ihrer Gründung angebracht sind.
1830, 1859, 1892, 1894, 1897, 1900. Von diesen Geschäften sind einige noch heute im Besitz der Gründerfamilien. Danowski 1892 (Uhren und Schmuck),Emisch/Schnoor 1900 (Immobilien), Osche 1894 (Eisen-,Garten- und Haushaltswaren). Nicht zu vergessen sind die vielen Ärzte, die ihre Lebensaufgabe zum Wohle der Lichterfelder vollbrachten und deren Söhne oft dieses Werk fortsetzten, sie leisteten manchmal mehr als vier Generationen einer Familie Beistand. Verlässlichkeit im geschäftlichen Leben war in diesen Familienbetrieben selbstverständlich, Veränderung nur, wenn diese geboten war.Einer jener uralten Lichterfelder Familienbetriebe ist das Augenoptik-Geschäft Schulze-Gunst in der Curtiusstraße 6. Sein heutiger Inhaber, Dieter Schulze-Gunst (56 Jahre), der den Betrieb in der dritten Generation leitet, erinnert sich:
Als mein Großvater, Wilhelm Schulze am 1. Oktober 1894 in der Kyllmannstrasse eine Reparaturwerkstatt für Uhren und optische Geräte gründete, war das Gebiet inLichterfelde West noch kaum bebaut. In der Dämmerung konnte man damals vom Bahnhof der Wannseebahn aus die Lichter der Kadettenanstalt (1872-1876) sehen. 1901 (??) zog der Betrieb meines Großvaters in neu errichtete Geschäftsräume am umbauten Karlsplatz, in die Ringstraße 71/Ecke Sternstraße (heute Kadettenweg). In das Schaufenster baute er eine riesige Uhr von 1,20 m Durchmesser. Diese sollte von nun an alten Anwohnern und Durchziehenden die Zeit zeigen, wenn der Weg sie in die Stadt führte, und sie bestimmte den Laufschritt ungezählter Kinder auf dem Weg zur Schule.
Der Bahnhof Lichterfelde West lag zwischen Potsdam und Berlin. Nun muss man wissen, dass die Kadettenanstalt, sie beherbergte ca. 1000 Kadetten, nicht nurAusbildungsstätte der Militärwaisen, sondern wichtige, wenn nicht die wichtigste schulische Ausbildungs- und Erziehungsanstalt des militärischen Nachwuchses Preußens, auch aus dem Hochadel, war. Wer aus Berlin kam, brauchte 18 Minuten mit der Bahn, und alle mussten dann den Weg vom Bahnhof zur Kadettenanstalt, die Carl- und Sternstraße (heute Baseler Straße und Kadettenweg) nehmen, direkt an Großvaters Laden vorbei. Das Geschäft hatte also einen äußerst günstigen Standort.
Aus dieser Zeit erzählte der Großvater von einer Reihe netter Begebenheiten, zum Beispiel die Geschichte vom silbernen Löffel der Familie zu Thurn und Taxis. DieKadetten, sie wurden als Jungs aufgenommen, wurden finanziell sehr kurz gehalten. Das bedeutete vor allem für die Kadetten aus dem Hochadel eine drastische Umstellung. Zum Monatsende kam es deshalb nicht selten vor, dass der Monat langsamer verging, als die Einteilung des Taschengeldes es vorsah. Auch wenn die kleinen, hochgestellten Persönlichkeiten knapp bei Kasse gehalten wurden, so hatten sie doch zumeist eine gute technische Ausstattung, z.B. Uhren. Diese brachten sie inKontakt zum Großvater. Er war sehr gesellig und wurde oft als gemütlicher Mensch geschildert. Ein intensiver Kontakt stellte sich auch zu einem Spross der Familie derer zu Turn und Taxis her. Auch hier war die Apanage kürzer als der Monat und der Großvater streckte vor. Unaufgefordert wechselte ein silberner Löffel mit fürstlichem Wappen den Besitzer. Den Rest des Monats wurde mit Blech gegessen,und am Monatsanfang wurde der Löffel wieder ausgelöst. Der Löffel tat nun bis zur Mitte des Monats seinen eigentlichen Dienst, um dann wieder versetzt zu werden.So ging das bis zur Reifeprüfung. Als der Abschied kam, schenkte der junge Thur nund Taxis dem Großvater den Löffel zum Andenken und zum Dank, dessen Enkel die nette Erinnerung bis heute bewahrt.
1912 eröffnete mein Großvater in der Carlstraße 4 (heute Baseler Straße 12) eine Filiale für Uhren, Brillen und optische Artikel, die von meiner Tante Charlotte geführt wurde. Mein Vater Alfred und mein Onkel Georg, beide Uhrmachermeister, mein Vater hatte zusätzlich den Meistertitel des Augenoptikerhandwerks, arbeiteten beide im Hauptgeschäft. Nur mein ältester Onkel Willi (geboren 1891) durfte wegen der „unsicheren Zeiten“ den Beruf des Uhrmachers nicht erlernen, sondern musste Verwaltungsbeamter werden, obwohl die Uhrmacherei sein Herzenswunsch gewesen ist und seine schulischen Leistungen inPhysik und Mathematik überdurchschnittlich gut waren. Hauptgeschäft und Filiale lagen 600 Meter von einander entfernt. Dadurch entstand ein Organisationsproblem. In beiden Geschäften unterhielten wir Werkstätten. Es kam vor, dass Ersatzteile benötigt wurden, deren Menge am Lager bei Brillen und Uhren vertretbar klein war. Welcher Technik sollte man sich nun bedienen, um schnell Ware vom einen zum anderen Geschäft zu bringen? Dieses Transportmittel hieß Max und war ein hochbeiniger schwarzer Kurzhaardackel. Er bekam, ähnlich wie seine Schweizer Bernhardiner „Kollegen“, einen Lederbeutel um den Hals und wurde so auf „Reisen“ geschickt. In der Baseler Straße fuhr damals von der Ringstraße bis zum Gardeschützenweg eine Straßenbahn, die „Elektrische“. Die Straßenbahnfahrer kannten Max und wenn sie ihn im „Dienst“ sahen, schwangen sie die Glocke. Max sprang auf die Elektrische, in Höhe von Osche wieder runter und rein in die Filiale.
Die Filiale entwickelte sich gut, mein Vater Alfred machte sie schließlich zum Hauptgeschäft und siedelte 1934 in die Baseler Straße 10 um (heute Litehaus). Die zwanziger Jahre waren gewiss nicht allgemein die „goldenen“, wie sie immer wiedergenannt werden. Die Kaufkraft der Kundschaft war begrenzt, Notwendigkeiten wieBrillen mussten immer im Haushaltsbudget extra eingeplant werden. Ebenso eine Dienstleistung, die wir heute gar nicht mehr kennen: das Uhrenaufziehen im Abonnement. Die damaligen Uhren, der Stolz der Hausherren, waren derart sensibel, dass sie vom angestammten Platz nicht entfernt oder verschoben werden durften, da sich sonst der Gang der Uhr änderte und sie stehen blieb. Also musste derFachmann ran. Diese Dienstleistung wurde übrigens noch bis 1960 von uns erbracht.
Doch zurück zu den dreißiger und vierziger Jahren. Steglitz war eine Hochburg der Nazis, Lichterfelde West nicht. Als der militärische Gruß durch „Heil Hitler“ ersetzt wurde, grüßten hier auch hohe Militärs mit „Grüß Gott“, soweit dies möglich war. Mit den Jahren wurde immer auffälliger, dass einige alte Kunden, Lichterfelder jüdischen Glaubens, nicht mehr gesehen wurden. Als meine Eltern gewisse Schilder,die die Kunden selektieren sollten, nicht an die Eingangstür anbrachten und auch der zweite Eingang des Geschäftes, der Seiteneingang, für alle Kunden offen stand, wurde der Laden nach erfolglosen „Belehrungen“ für eineinhalb Jahre, bis zum Kriegsende, geschlossen.
Seit 1968 führt jetzt Dieter Schulze-Gunst das Geschäft in der dritten Generation, zusammen mit seiner Frau Maria. 1975 erfolgte der Umzug an seinen jetzigen Standort in der Curtiusstraße 6, in das Paul-Emisch-Haus. Und heute konzentriert man sich hier ganz auf die Augenoptik und Kontaktlinsen. „1968, als wir die Verantwortung übernahmen, waren wir beide noch ziemlich jung, meine Frau 22und ich 26 Jahre alt. Das Geschäft war damals noch immer in zwei Bereiche aufgeteilt, Uhren/ Schmuck einerseits und Augenoptik andererseits. Eine Zeitlang war ich als Vorsitzender der Berliner Juweliere tätig. Meine Profession lag aber auf dem Gebiet der Augenoptik, und so entschieden wir uns, uns am neuen Ort in der Curtiusstraße 6 nur noch um die Augen zu kümmern.“ Und diese Entscheidung hat sich als richtig erwiesen. Erfolg stellt sich ein, wenn eingefahrene Wege verlassen werden. Für uns war von Anfang an klar, dass die Dienstleistung rund um die Brille, das Feststellen des Augenfehlers und das Erkennen, wann ggfs. der Augenarzt tätig werden muss, eine tragende Säule des Erfolgs ist. Wir waren stets und sind bei moderner Messtechnik führend in Berlin. Für den Kunden ist das beschwerdefreie Sehen genauso wichtig wie das Aussehen. Für beides steht der Name „Schulze-Gunst“. 60 Prozent unserer Kunden kommen von außerhalb Lichterfeldes, aus ganz Berlin, zu uns. Auch darauf sind wir stolz. Und seit unsere Tochter Leonie ihre Ausbildung abgeschlossen hat, trägt bei uns jetzt bereits die vierte Generation Verantwortung. Wir sind ein richtiger „Familienbetrieb“, zumal auch unsere Mitarbeiter dazu zählen. Ein Betrieb mit viel Persönlichkeit.